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Besser leben mit Inkontinenz – der Vorsitzende der Inkontinenz Selbsthilfe e.V. im Interview

Wir sprechen mit Matthias Zeisberger, dem Vorsitzenden der Inkontinenz Selbsthilfe e.V. Seit 2006 leistet er Selbsthilfearbeit mit seinem Team und teilt wertvolles Wissen, Tipps und Infomaterial für ein besseres Leben mit Inkontinenz. Wir hatten das Glück, ihn noch vor der Weltkontinenzwoche 2021 sprechen zu können! Das spannende Interview gibt es übrigens auch zum Anhören auf unserem Podcast.

Inkontinenz Selbsthilfe Interview im Podcast
Auch erhältlich bei Apple Podcasts und Spotify.

Das findest du in diesem Artikel:

  1. Was macht der Verein Inkontinenz Selbsthilfe e.V.?
  2. Wie groß ist das Thema Inkontinenz?
  3. Wann habe ich Inkontinenz und welche Formen gibt es?
  4. Welcher Arzt ist der richtige bei Inkontinenz?
  5. Was zahlt die Krankenkasse bei Inkontinenz?
  6. Warum ist Inkontinenz ein Tabu?
  7. Tipps zu Ess- und Trinkgewohnheiten mit Inkontinenz
  8. Reisen und Sex mit Inkontinenz – geht das?
  9. Tipps für die Suche nach öffentlichen Toiletten
  10. Wie kann man Inkontinenz vorbeugen?
  11. Tipps, um sich im eigenen Körper wohlzufühlen
  12. Kontakt

Herr Zeisberger, welches Gesicht hat Inkontinenz?

Hallo Frau Boll! Ich freue mich heute hier sein zu dürfen! Ja, viele würden sich wundern, wie viele unterschiedliche Gesichter die Inkontinenz hat. Es ist alles andere als eine Senioren Krankheit. Inkontinenz ist in so vielen unterschiedlichen Arten und Formen vorhanden und betrifft jedes Alter und beide Geschlechter. Inkontinenz hat einfach unglaublich viele Gesichter.

Sie sind selbst Inkontinenz-Betroffener. Welche Inkontinenz-Art wurde bei Ihnen festgestellt?

Ich habe eine neurologische Erkrankung und in deren Folge auch eine neurogene Blase. Das betrifft sowohl Blase als auch Darm. Sowohl in der Kontrollfunktion als auch in der Entleerungsfunktion. Das habe ich schon seit sehr vielen Jahren.

Wie hilft Ihr Verein?

Wir möchten hauptsächlich die Lebensqualität der Betroffenen verbessern und das auf allen Ebenen. Das erreichen wir durch vielfältige Angebote:

  • Aufklärungsarbeit, um die Thematik aus der Tabuecke und der Isolation herauszuholen
  • Informationensvermittlung passiert hauptsächlich auf unserer Homepage, wo wir Grundinformationen zu den verschiedenen Inkontinenzformen und – arten (das ist nämlich ein Unterschied!) zu Therapien, Diagnostik- und Behandlungsmethoden und Hilfsmitteln bereitstellen
  • Förderung des gegenseitigen Erfahrungsaustausches ist unser Schwerpunkt: durch unser Selbsthilfe-Forum auf der Website, das wirklich sehr gut angenommen und besucht wird, man kann sich das vorstellen, wie eine virtuelle Selbsthilfegruppe, 24h am Tag, 7 Tage die Woche und barrierefrei
  • Als Interessensvertretung agieren wir auch auf politischer Ebene, sprechen mit Akteuren und Beteiligten des Marktes (Leistungserbringer, die Wirtschaft, Krankenkassen, die Politik) – ein sehr großer Punkt, der häufig nur bedingt von außen wahrgenommen wird, aber einen Kernpunkt unserer Arbeit darstellt

Kathrin: Das hört sich ja jetzt bei Ihnen fast so an wie bei uns – einem Start-up! 🙂

Herr Zeisberger: Ich sage immer ein bisschen scherzhaft: „Wir machen Selbsthilfearbeit manchmal im Schlafanzug auf der Couch.“ Wir pflegen natürlich Professionalität, denn auch an einen Verein werden heutzutage Erwartungen gestellt wie an ein Start-Up oder ein Unternehmen, aber wir möchten auch den Spaß dabei nicht verlieren.

Bei Inkontinenz gehen Experten von einer hohen Dunkelziffer aus – helfen Sie uns, wie groß ist das Thema Inkontinenz?

Es gibt natürlich keine Meldepflicht für Inkontinenz Betroffene, von daher ist das immer ein bisschen schwierig zu ermitteln. Aber die letzte offizielle Erhebung der Bundesregierung stammt aus dem Jahr 2011. Dabei wurde ermittelt, dass 4,5 Millionen Frauen von Inkontinenz betroffen sind und rund 1 Millionen Männer und 500.000 Kinder. Da sind wir insgesamt schon bei einer Zahl von 6 Millionen.

Man sieht ja auch an den Supermarkt-Regalen, wie präsent dort Inkontinenzprodukte sind. Und dafür muss es ja auch Abnehmer geben. Anhand der Anzahl an vertriebenen Produkten kann man eine Hochrechnung anstellen, die zu ca. 8-10 Millionen Betroffenen in Deutschland kommt. Hierbei sind natürlich alle verschiedenen Arten und Formen von Inkontinenz mitberücksichtigt. Das halte ich aber für eine realistische Zahl.

Sagen Sie eigentlich lieber Inkontinenz oder Blasenschwäche?

Blasenschwäche ist lediglich der Begriff für Inkontinenzformen, die eine Schwächung der Blase und des Beckenbodens als Ursache haben. Dazu würden zählen die Belastungsinkontinenz und teilweise die Drang- und Mischinkontinenz. Also sobald eine Inkontinenz aufgrund einer Schwächung der Beckenbodens oder des Halteapparates vorhanden ist, ist die Blasenschwäche der richtige Begriff. Ansonsten ist (Harn-) Inkontinenz der Oberbegriff für alle Inkontinenzformen.

Ich kenne keinen Querschnittsgelähmten, der seine Inkontinenz oder Blasenentleerungsstörung als Blasenschwäche bezeichnen würde.

Blasenschwäche ist auch ein bisschen ein Marketing-Name glaube ich. Es verniedlicht das Ganze ein bisschen. Eine Schwäche kann ja manchmal auch ganz süß sein, wohingegen der Begriff Inkontinenz oft sehr negativ behaftet ist.

„Solange es nur ein paar Tröpfchen sind, ist es noch keine Harninkontinenz“ – ist das korrekt?

Wir definieren es so: Eine Inkontinenz liegt vor, sobald Zeitpunkt und Ort für die Blasenentleerung nicht selbstbestimmt sind. Gerade wenn man nur von wenigen Tropfen redet – das hat ja Ursachen und wenn ich eine Schwäche im Beckenboden habe und mit wenigen Tropfen beginne, dann habe ich nicht nur das Problem, dass ich Urin verliere. Sondern dann habe ich eine beginnende Beckenbodenschwäche. Gerade dann sollte man das als Inkontinenz bezeichnen und wahrnehmen, denn dann ist die Chance noch gegeben daran noch was zu verändern.

Die Tröpfchen sind das erste Signal des Körpers und sollen ernst genommen werden, weil sich dahinter die Chance verbirgt, schnell handeln zu können.

Wie oft auf Toilette müssen ist denn normal?

Das hängt natürlich ab von …

  • Trinkmenge
  • Ernährung
  • Außentemperatur
  • usw…

Wenn ich 4l Flüssigkeit am Tag zu mir nehme, muss ich logischerweise häufiger auf Toilette. Aber gerade bei der Form der Dranginkontinenz ist der gesteigerte Harndrang ein wesentliches Merkmal dieser Inkontinenzform. Dabei beschreiben uns manchmal Betroffene Frauen, dass sie alle Stunde oder sogar noch häufiger auf Toilette gehen und das ist definitiv zu oft.

Alle 3-4 Stunden zu müssen und durchaus auch einmal in der Nacht, gilt als normal.

Bei allem, was einem Rhythmus von 60 Minuten oder darunter entspricht, sollte man auf Ursachen Erkundung gehen. Da kann eine Entzündung dahinterstecken oder aber auch eine neurogene Ursache, also dass die Blase ständig unter Strom steht und das sollte man schon untersuchen.

Welche Formen der Inkontinenz gibt es denn?

Wir unterscheiden 5 Formen der Inkontinenz:

  • Belastungsinkontinenz: Wurde früher auch Stressinkontinenz genannt. Hierbei handelt es sich nicht um den psychologischen Stress, sondern um den Stress der Blase. Deshalb bezeichnet man es heute besser als Belastungsinkontinenz.
  • Dranginkontinenz: Hier sind häufig die Ursachen im neurogenen Bereich, in einer Fehlsteuerung oder Übererregbarkeit oder durch akute Infektionen zu finden.
  • Überlaufinkontinenz: Aufgrund von Passage Hindernissen der Blase wie z. B. Steine, Harnröhrenverengungen oder Tumore kann der Urin nicht abfließen und irgendwann läuft die Blase, wie eine Gieskanne, einfach über
  • Reflexinkontinenz: Im neurologischen Bereich bei Erkrankung wie z. B. Demenz, Alzheimer, Spina Bifida, MS, Querschnittlähmung
  • Extraurethrale Inkontinenz: Hierbei gelangt der Urin nicht aus der Harnröhre, sondern über einen Fistelgang aufgrund von Fistelbildung. Das kann sowohl im Genitalbereich als auch direkt als Ableitung in den Darm stattfinden.

Welcher Arzt stellt die Inkontinenz fest? Zu wem geht man?

Die beiden Fachärzte für diesen Bereich sind der Urologe und der Gynäkologe. Die Urologie ist die Wissenschaft der Harnbildenden und Harnableitenden Organen, also:

  • Niere
  • Blase
  • Harnleiter
  • Harnröhre

… und das bei beiden Geschlechtern! Die Urolog*innen werden häufig als Männerarzt gesehen. Aber auch als Frau kann man zum Urologen gehen und wenn man unter Inkontinenz leidet sollte man das auch primär. Für den Mann sind die Urologen speziell für die Lehre der Andrologie, also die Lehre der Fortpflanzung vom männlichen Geschlecht zuständig. Ansonsten ist der Urologe für beide Geschlechter zuständig, denn beide Geschlechter haben eine Blase, Harnleiter, Niere und alle Organe, die zum urogenitalen Trakt gehören.

Auch Frauen können und sollten zum Urlogen gehen bei Beschwerden!

Der Gynäkologe kann auch Ansprechpartner sein. Vor allem bei Senkungsbeschwerden oder einem Prolaps der Blase. Wünschenswert wäre natürliche immer eine interdisziplinäre Arbeit. Wir empfehlen bei größeren oder langanhaltenden Problemen, sogenannte Kontinenz- oder Beckenbodenzentren aufzusuchen. Eine Auflistung dieser Zentren findet sich auch auf unserer Homepage.

Was zahlt denn die Krankenkasse?

Wie viel Stunden Zeit haben wir? Das ist eines unserer Themen, welches unser letztes Jahrzehnt begleitet hat. Es ist so, dass Inkontinenzmittel ab einem mittleren Grad der Inkontinenz verordnungsfähig sind und im Sachleistungsprinzip der Krankenkasse zu erhalten. Allerdings zu sehr niedrigen Monatspauschalen, was die Krankenkassen bezahlen. Wir hatten noch bis vor einigen Jahren ein sogenanntes Ausschreibungsmodell, d.h. der günstigste Anbieter hat die Ausschreibung für ein ganzes Gebiet, z.B. für ganz Brandenburg, gewonnen und durfte dann für die Kasse alle Betroffenen in diesem Gebiet mit einem Hilfsmittel versorgen.

Was sind denn Inkontinenz-Hilfsmittel überhaupt?

  • Einlagen
  • Vorlage
  • Windelhosen
  • Pants, …

… und der Unterschied zwischen Einlagen und Vorlagen ist?

Die Einlage hat immer einen Klebestreifen, wohingegen die Vorlage mit einer Netzhose oder einer enganliegenden Unterhose getragen wird und ist anatomisch geformt.

Was zahlt die Krankenkasse bei Inkontinenz?

In Deutschland gibt es eine Spanne in der Versorgung (pro Monat, unabhängig des Inkontinenzgrades) zwischen unter 10 Euro und bis zu 30 Euro. Letzterer Betrag sind aber eher wenige Ausnahmen. Der Schnitt liegt bei 17 Euro pro Monat. Dadurch entstehen häufig große Eigenanteile für die Betroffenen. Mit steigendem Inkontinenzgrad steigt häufig die wirtschaftliche Aufzahlung.

Die Inkontinenz Selbsthilfe e. V. listet hier diese drei Inkontinenz-Schweregrade für Belastungsinkontinenz auf (Quelle: Inkontinenz Selbsthilfe e. V., 08.06.2020):

  • 1. Grad: Urinverlust kommt beim Husten, Niesen, Pressen und Lachen vor
  • 2. Grad: Urinverlust beim Heben, Laufen und Treppensteigen
  • 3. Grad: Urinverlust auch im Liegen

„Unter 10 Euro“ … wie weit kommt man damit?

Bei schwereren Inkontinenzformen ist das in der Regel nicht kostendeckend. Das heißt, Betroffene müssen aus eigener Tasche zuzahlen. Und hier kämpfen wir als Verein seit über 10 Jahren dagegen. Das ist einfach eine unglaubliche Ungerechtigkeit.

Wir haben ein paar Erfolge erzielt, z.B. wurde das Ausschreibungsmodell abgeschafft und es geht nun um Beitrittsverträge. Allerdings haben mitunter die gleichen Akteure, die sich beim damaligen Ausschreibungsverfahren sehr aggressiv in der Preisfindung gezeigt haben, auch heute mitunter die Verträge mit den Krankenkassen geschlossen. Also hat sich oftmals nicht viel verändert. Was sich verändert hat ist die Qualität der Hilfsmittel. Diese hat zugenommen, weil der Gesetzgeber höhere Qualitätsanforderungen vorgibt.

Können Sie uns ein Beispiel nennen – wie tief muss ich pro Monat in die Tasche greifen?

Der GKV Spitzenverband gibt jedes Jahr einen Mehrkostenbericht heraus. Dort sind die aufsaugenden und ableitenden Inkontinenz Hilfsmittel aufgeführt. Bei 17% der Betroffenen kommt es zu wirtschaftlichen Aufzahlungen, welche bei ca. 72 Euro monatlich liegen. Die Herangehensweise ist allerdings ein wenig irreführend, da es sich bei der Zahl ja um die aufsaugenden UND ableitenden Hilfsmittel handelt. Die Zuzahlungen für ableitende Hilfsmittel belaufen sich nämlich fast auf null. Also wird damit unser Ergebnis von 17% und 72 Euro deutlich verfälscht.

Wir haben auch mal eine eigene Erhebung gemacht und da war der Schnitt so bei 50 Euro Zuzahlung neben dem Sachleistungsprinzip der Kasse. Und im freien Markt ist das natürlich abhängig von der Wahl des Produkts. Im Discounter wird es günstiger als ein Markenprodukt in der Apotheke zu erwerben.

Grundsätzlich hier noch mal der Appell an alle Betroffenen: Gehen Sie zum Arzt. Sie werden versorgt durch die Krankenkasse, darauf haben Sie Anspruch.

Im Rahmen unserer #freundkörper-Kampagne möchte ich mit Ihnen über Blasenschwäche im Dialog sprechen. Mit wem sprechen denn Betroffene über ihre Harninkontinenz?

Wir haben uns letztes Jahr an einer großen Studie beteiligt, bei der 2.000 Personen befragt wurden, wie sie zum Thema Inkontinenz stehen und wie sie damit umgehen würden. Leider wurden dabei nicht nur die Betroffenen gefragt, sondern einfach die gesamte Bevölkerung.

Ca. 90% der Befragten dieser Studien haben geantwortet, dass sie relativ offen mit dem Thema umgehen würden. Sei es im Familien- oder Freundeskreis oder auch mit dem Arbeitgeber. Hätte man nur Betroffene gefragt, sähe das ganz anders aus.

Teilweise ist es erschreckend, wie Betroffene versuchen, ihre Inkontinenz zu verheimlichen und sich dem Ganzen nicht zu stellen.

Mit dem Arzt, dem Partner, der Familie oder den Freunden wird kein Vertrauensverhältnis aufgebaut. Es muss oft erst ein unglaublicher Leidensdruck aufgebaut werden, bevor sich der Problematik überhaupt gestellt wird.

Warum ist es für Betroffene und nicht-Betroffene so schwierig, darüber zu reden?

Es wird immer über eine gesellschaftliche Tabuisierung des Themas gesprochen. Ich würde, das gar nicht so sehr teilen. Die Tabuisierung findet mehr bei den Betroffenen selbst statt. Die Gesellschaft ist da viel offener im Umgang mit dem Thema als die Betroffenen selbst. Zumindest laut unserer Erfahrung.

Ist es möglich, das Ganze sachlicher zu sehen?

Wenn Sie selbst von einer Erkrankung betroffen sind, die sich im Intimbereich abspielt und tatsächlich gesellschaftlich nicht so salonfähig ist, fällt das mit der eigenen Akzeptanz und der Sachlichkeit nicht so einfach. Aber es wäre natürlich wünschenswert, dass man viel offener mit der ganzen Sache umgeht.

Ich sag manchmal auch: „Ein Inkontinenter frisst in der Regel keine kleinen Kinder.“ Es gibt nichts für was man sich schämen muss, aber trotzdem ist es die Scham, die viele Menschen am sachlichen Umgang damit hindert.

Und dabei hilft ja dann auch Ihr Verein, Inkontinenz Selbsthilfe e.V, oder?

Zu uns kommen viele Betroffene, die sehr verzweifelt sind. Die schon eine lange Leidensgeschichte hinter sich haben und sich nie getraut haben, über das Thema zu sprechen oder es anzugehen. Da ist manchmal auch einfach zuhören angesagt. Wir streicheln nicht jeden über den Hinterkopf und machen auf Mitleid, aber den Menschen ein Gefühl von Verständnis zu geben, evtl. eben aus der eigenen Betroffenheit heraus, ist für vielen Menschen unglaublich wertvoll.

Haben Sie Tipps für Gesprächspartner, wie reagiert man richtig?

Das kommt natürlich immer ein bisschen auf das Umfeld und auf die Situation an. Aber ich möchte hierbei einmal unseren ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zitieren:

„Nicht behindert zu sein ist wahrlich kein Verdienst, sondern ein Geschenk, das jedem von uns jederzeit genommen werden kann.“

Richard von Weizsäcker, ehemaliger Bundespräsident

Das wurde zwar in einem etwas anderen Zusammenhang gesagt, aber auf Inkontinenz übertragen sagt es auch nochmal ganz deutlich: „Sprecht darüber. Es kann euch morgen selbst treffen.“

Kathrin: Das ist ja auch ein guter Punkt, den wir in der Prävention sehr stark betonen. Wir müssen darüber reden und gerade auch über Generationen hinweg. In den früheren Generationen steckt so viel Wissen, woraus die jüngeren ganz viel mitnehmen können, z. B. den Appell: „Investiert in eure Gesundheit jetzt für die Gesundherhaltung für später!“

Wird in den Generationen unterschiedlich mit dem Thema umgegangen?

Ja es ist tatsächlich eine Generationsfrage. Die jüngeren Betroffenen haben gelernt, über solche Themen viel offener zu sprechen. Bei der älteren Generation, ich meine damit so ab 65 Jahren, ist es oftmals erlernt, nicht über solche Themen zu sprechen. Da spricht man auch seltener und weniger offen über Sexualität. Natürlich betrifft das nicht alle aber bei der älteren Generation ist es schon deutlich Tabuisierter.

Holt sie die Einlagen-Werbung aus dem TV ab?

Grundsätzlich möchte ich erst mal sagen, ist es schon mal gut, dass in der Öffentlichkeit überhaupt über das Thema gesprochen wird. Ob mich die Werbung abholt ist natürlich eine sehr persönliche Frage. Die Werbung ist ja immer an bestimmte Zielgruppen gerichtet. Man kann davon ausgehend, dass die großen Hersteller, die man im Fernsehen sieht, große Marketing Abteilung haben und diese gewisse Zielgruppen erreichen wollen. Und weil Frauen die größere Zielgruppe sind, ist die meiste TV-Werbung auch auf diese Zielgruppe maßgeschneidert.

Gerade in der Fernsehwerbung, geht es häufig darum, die Blasenschwäche zu verstecken. Ist das alles, was sich Betroffene wünschen?

Aus Unternehmerischer Sicht kann ich das schon nachvollziehen. Wir als Selbsthilfe würden immer die Sicht förden: „Sucht den Arzt auf und kümmert euch darum.“ Die Einlage ist natürlich immer solange sinnvoll, bis Linderung oder Heilung der Beschwerden eintritt. Es wäre schon manchmal wünschenswert, wenn es wie bei Medikamentenwerbung den Abspann gäbe: „Bei Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.“

Ist denn die Einlage eher Fluch oder Segen?

Sie ist an erster Stelle ein Hilfsmittel. Sie sichert die soziale Teilhabe. Die wäre ohne Einlage oder Vorlage oftmals gefährdet oder gar nicht möglich. Ich glaube niemand trägt sie wirklich gerne, aber es ist halt ein notwendiges Hilfsmittel und von daher angebracht und sinnvoll.

Was möchten Sie Menschen sagen, die keine Blasenschwäche haben. Was sollten sie über Betroffene wissen und wie sollten sie sich verhalten?

Jeder/Jede kann irgendwann von Inkontinenz betroffen sein. Hütet euch, euch vielleicht sogar darüber lustig zu machen oder es eklig zu finden. Früher oder später kommt ihr alle dran, zumindest ist die Wahrscheinlichkeit gegeben.

Also, ich rate dazu, einfach den normalen Umgang zu fördern. Das ist wie der Umgang mit Menschen mit Behinderung. Integriert euch, seid eine Gemeinschaft, fördert die Teilnahme und Teilhabe.

Kommen wir zu dem Thema Leben mit Inkontinenz.

Es gibt einen Spruch, der heißt: „Inkontinenz tötet nicht, aber sie nimmt dir das Leben.“ Was sagen Sie dazu?

Das ist ein Zitat von Prof. Dr. Jünemann, der langjährig Vorsitzender der Deutschen Kontinenzgesellschaft war. Dieses Zitat wird immer ein bisschen verkürzt wiedergegeben. Mit „sie nimmt das Leben“, hat Herr Prof. Dr. Jünemann sich auf die Lebensqualität bezogen aber in der Kurzform hört sich das immer so an, als würde die Inkontinenz einen umbringen. Viel mehr ist damit gemeint, dass es die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigen kann.

Wie sieht das Leben mit Inkontinenz überhaupt aus?

Das hängt natürlich auch wieder von den Ursachen ab. Wenn jemand jetzt einen Schlaganfall hat und deshalb eine Inkontinenz hat oder eine Demenz und man pflegebedürftig wird und eine Inkontinenz hat, dann sieht das Leben ganz anders aus als bei einer jungen Mutter nach der Schwangerschaft. Generell kann man festhalten, es ist bei allen Ursachen, oftmals mit Scham verbunden. Wenn man an Patienten mit Krebs denkt, ist häufig die Inkontinenz nicht so wichtig. Die Tatsache, dass man den Krebs überwunden hat, steht da im Vordergrund.

Haben Sie Tipps zu Mode, Essgewohnheiten & Trinkgewohnheiten?

Ja, ich als Mann kann weder sonderlich viel zu Schminken oder Frisurtipps sagen (lacht). (pelvina: Wir aber schon! 😉 Hier in unserem Mode-Artikel) Sehr viele Menschen mit Harninkontinenz berichten, dass sie die Trinkmenge reduzieren, um die Miktion oder den Urinverlust zu vermeiden. Genau das Gegenteil ist der Fall.

Der Urin wird dann deutlich konzentrierter, was Harnwegsinfektionen fördert und dazu führen kann, das der Harndrang zunimmt. Außerdem ist geringes Trinken schädlich für den gesamten Organismus. Unser Körper und unser Gehirn brauchen Flüssigkeit. Ganz abgesehen davon – es macht keinen sonderlich großen Unterschied, ob man 200ml oder 250ml Urin verliert. Die Trinkmenge zu reduzieren, ist da definitiv schädlich.

Kann man mit Harninkontinenz lange Reisen machen, Sex haben … ?

Also ich reise (außerhalb von Pandemiezeiten) leidenschaftlich gerne und ich habe eine vergleichsweise starke Inkontinenz. Deswegen: ja! Reisen ist möglich. Es bedarf aber einer gewissen Vorbereitung. Wenn man im aufsaugenden Bereich Hilfsmittel verwendet, dann gibt es oftmals ein logistisches Problem, vom Gepäck und dem Volumen her. Außerdem ist auch das Reiseziel an sich ein Faktor. Innerhalb Deutschlands ist es kein Problem, weitere Materialien zu bekommen, aber im Ausland kann das durchaus anders aussehen.

Bei Flugreisen gerade bei Mobilitäts-Einschränkungen wie bei mir als Rollstuhlfahrer, ist das mit den Bordtoiletten eine Herausforderung. Da sollte man die Hilfsmittelwahl gerade bei einer längeren Flugreise bedenken. Aber eigentlich kann man mit der passenden Versorgung an allen kulturellen Veranstaltungen teilnehmen. Man muss nur das richtige Produkt verwenden und sich halt trauen.

Und wie steht es um Sexualität und Inkontinenz?

Warum denn nicht? Es ist lediglich eine Frage der Gelegenheit. Für mich beruht Sexualität auf Vertrauen. Von dem her sollte es eigentlich kein Problem sein, in einer Partnerschaft das Problem der Inkontinenz zu überwinden oder mit einzubinden.

Schwierig wird’s vielleicht bei einem One-Night-Stand, wenn die Hose runter geht und die Windelhose zum Vorschein kommt. Das stelle ich mir persönlich ein bisschen schwierig vor. Aber in einer vertrauten Partnerschaft sollte es eigentlich kein Hindernis darstellen. In der Praxis jedoch stellt es durchaus manchmal ein Hindernis dar.

Jetzt zu Corona haben viele öffentliche Toiletten geschlossen. Hätten Sie Vorschläge wie sich das Stadtbild ändern sollte?

Ich lebe in Berlin und hier ist die Infrastruktur, vor allem bzgl. der öffentlichen Toiletten natürlich viel besser als im ländlichen Raum. Aber wie Sie schon sagen, hat die Pandemie natürlich dafür gesorgt, dass viele öffentliche Toiletten geschlossen sind, was Betroffene durchaus vor Probleme stellt.

Es gibt ein ganz tolles Projekt, das nennt sich Toiletten für alle. Dieses fördert die Einrichtung von wirklich barrierefreien Toiletten. Sprich mit einer Liege oder einem Lift für die Patienten. Denn Inkontinenz betrifft ja nicht nur die leichte Blasenschwäche mancher Frauen, sondern geht weiter und häufig auch einher mit anderen Krankheiten. Das finde ich persönlich ein tolles Projekt.

Eine zusätzliche gute Sache ist der sogenannte Euro Toilettenschlüssel. Das ist ein Schlüssel, der passend ist für alle öffentlichen Toiletten in ganz Europa. Ich habe diesen Schlüssel sogar auf den öffentlichen Toiletten auf den Kanaren benutzen können. Mit dem Schlüssel kann man ohne Zeitbegrenzung und kostenlos auf Toilette gehen. Vor allem für Menschen mit stärkeren Inkontinenz-Problematiken würde ich empfehlen, sich um diesen Schlüssel zu bemühen. Der kostet so um 28 Euro glaube ich und erleichtert einem oftmals auch die Versorgung. Kleiner positiver Nebeneffekt – die Toiletten sind oft auch sauberer.

Wie kann ich denn als gesunder Mensch gesundheitsbewusst leben, um zumindest bestimmte Formen der Inkontinenz vorzubeugen?

Präventive Gesundheitserziehung fängt ja bereits im Kindesalter an.

Ich kann mich an meine Schulzeit erinnern, wo man während der Schulzeit nicht auf die Toilette gehen durfte.

Ich glaube zwar, dass sich das heute verbessert hat, aber trotzdem ist es gut, seine Blase dann zu entleeren, wenn sie es fordert. Durch ständiges Aushalten wird die Blase überdehnt.

Auf eine gute Ernährung und auf das Gewicht zu achten, sind zwei große Themen. Bei Frauen ist auch schweres körperliches Heben sehr belastend (wie du richtig hebst, um deinen Beckenboden im Alltag zu schonen, liest du in unserem Artikel hier). Da kommt es ja auch immer sehr auf die richtige Technik an. Und übrigens ja auch im Zyklus der Frau ist das Heben, dann doppelt belastend aufgrund der hormonell veränderten Hormone. Bei Frauen sind nach der Schwangerschaft und Geburt die Rückbildung und das Beckenbodentraining das A und O. Das Alter spielt natürlich auch eine Rolle.

Häufig ist im Alter die eingeschränkte Mobilität, der einzige Grund für die Inkontinenz. Also ist es wichtig rechtzeitig seine Mobilität zu fördern und zu erhalten.

Letztes Thema: Was macht die Harninkontinenz mit der Beziehung zum eigenen Körper?

Das ist natürlich sehr individuell. In der Regel fördert sie nicht wirklich das Selbstvertrauen oder Selbstwertgefühl, was sich in Rückzug, Isolation und Scham bei den Betroffenen bemerkbar macht. Manche empfinden vielleicht auch einfach Ekel. Viele Menschen berichten auch, dass ihr größtes Problem der Kontrollverlust ist. Wer verliert schon gerne die Kontrolle über sich und seine Körperfunktion?

Was kann ich als Betroffene tun, um mich wohl zu fühlen in meinem Körper?

  • Offen damit umgehen.
  • Hilfe suchen, wenn Hilfe notwendig ist.
  • Sich darum kümmern.

Ich weiß ich wiederhole mich, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele sich jahrelang aus Scham nicht damit auseinandersetzen. DAS kann die Probleme verstärken.

Kathrin: Vielen Dank, lieber Herr Zeisberger, für Ihre Zeit! Ich wünsche Ihnen und Ihrem Team alles Gute und eine erfolgreiche Welt-Kontinenz-Woche.

Kontakt Inkontinenz Selbsthilfe e.V.:

Inkontinenz Selbsthilfe e.V.
c/o Matthias Zeisberger
Röttkenring 27
13053 Berlin

E-Mail: kontakt@inkontinenz-selbsthilfe.com
Website: https://www.inkontinenz-selbsthilfe.com
Forum: https://www.inkontinenz-selbsthilfe.com/forum
Vereinsmitglied werden: https://www.inkontinenz-selbsthilfe.com/mitgliedsantrag

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